Um diese Fragen zutreffend beantworten zu können, betrachtet Prof. Dr. Joachim Klosterkötter, Vorsitzender des KVsG und Gründer des Fetz, die gegenwärtige virale Pandemie einmal aus dem Blickwinkel der modernen Stressforschung. So gesehen stellt sie dann nämlich in der Tat gar nichts anderes als einen groß angelegten, der Menschheit von außen aufgezwungenen Stress-Test dar, dem wir alle einzeln und gemeinsam gleichermaßen unterworfen sind.
Wie man reagiert, hängt weniger von den objektiven Gegebenheiten der Gefährdung und Einschränkung im jeweiligen eigenen Lebensbereich, als vielmehr von deren subjektiver Bewertung ab. Wer beispielsweise seinen täglichen Belastungen durch die virale Krise mehr als Herausforderung erlebt, die er unter eigener „internaler“ Kontrolle halten und selber meistern kann, wird weniger mit Ängsten oder depressiven Verstimmungen reagieren. Wenn ich mich dagegen etwa Quarantäne-Maßnahmen wie einem von außen erzwungenen „externalen" Schicksal ausgeliefert fühle, erhöht sich mein Risiko, auf diese Belastungen immer mehr mit „toxischem“, bei langfristiger oder hochfrequenter Exposition auch tatsächlich krankmachendem Stress zu reagieren.
„The Lancet“, eines der international wichtigsten wissenschaftlichen Journals, hat kürzlich eine Studie speziell zu den Auswirkungen häuslicher Quarantäne auf die Psyche veröffentlicht, in die Erfahrungen von insgesamt 20.000 Betroffenen eingeflossen sind. Die Ergebnisse bestätigen wiederum eindrucksvoll, wie sehr es tatsächlich auf die eigene kognitive Bewertung der Stress-induzierenden Maßnahmen ankommt. Je mehr ich über den Sinn der Quarantäne aufgeklärt bin, mir dementsprechend auch selbst ihre Zielsetzung zu eigen machen und die Maßnahme gewissermaßen als „altruistisch“ motivierte Selbstisolierung verstehen kann, umso eher bleibe ich von den in der Studie nachgewiesenen posttraumatischen Stresssymptomen verschont.
Gut, schnell, aktuell und vor allem richtig informiert zu sein und dies genauso auch über die ganze Krisenentwicklung hinweg zu bleiben, ist also von ausschlaggebender Bedeutung. Deshalb kommt ja dem viel beschworenen Krisenmanagement auf allen politischen Ebenen und auf allen gesellschaftlichen Feldern tatsächlich auch ein so hohes Maß an Verantwortung für die Akzeptanz der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Belastungen zu. Optimale Information und Überzeugungsarbeit im medial vermittelten Zusammenspiel von Experten und Politik können und sollen Einstellungen befördern, aus denen heraus man sich auch schwerwiegende Einschränkungen zu eigenen Gestaltungsaufgaben macht. Wem es gelingt, diese innere Haltung einzunehmen und auch unter zunehmender Belastung weiter beizubehalten, der wird wie von selbst auch zu allen weiteren aktiven Anpassungsleistungen tendieren, die für die Erhaltung seelischer Gesundheit empfehlenswert sind. Vor allem Aktivitäten wie den Alltag positiv umzugestalten, sich weiter auszutauschen und einander zu helfen, gehören zu diesen stressvermindernden Selbstregulationen mit hinzu. Wie so etwas dann im Einzelnen umgesetzt werden könnte, lässt sich etwa auch aus der entsprechenden Empfehlungsliste der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) ersehen.
Allerdings sollte man sich auch nicht scheuen, erforderlichenfalls professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wer auf die Gefährdungen und Einschränkungen eher mit Gefühlen des Ausgeliefertseins reagiert, gerät leicht in eine abgeschlossene Welt von sich steigernden Sorgen und Ängsten hinein, aus der er sich aus eigener Kraft heraus allein nicht mehr befreien kann. In solchen Verfassungen ist dann über die fachkundige Beurteilung und Behandlung der beklagten Beschwerden hinaus immer auch zu prüfen, ob nicht infolge der negativen Stresserfahrungen schon ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von depressiven Störungen, Psychosen oder Abhängigkeitserkrankungen besteht. Speziell für diese Aufgabe stehen inzwischen in einer ganzen Reihe von deutschen Städten Früherkennungs- und Therapiezentren (FETZ) für psychische Krisen zur Verfügung, die alle in den letzten 20 Jahren nach dem Ursprungsmodell des Kölner FETZ aufgebaut worden sind. Nicht zuletzt dank dieses Früherkennungsnetzwerkes bestehen in Deutschland gute Chancen krankhafte Auswirkungen des enormen Belastungsdrucks rechtzeitig abzufangen und einen Anstieg der Neuerkrankungsrate an psychischen Störungen infolge der Pandemie zu verhindern.
Daneben erfordert aber auch noch eine andere Bevölkerungsgruppe in der aktuellen Krisensituation besondere psychiatrische und psychotherapeutische Beachtung. Das sind die vielen jüngeren und älteren Menschen, die in ihrem bisherigen Leben bereits psychische Erkrankungen durchgemacht haben. Manche von ihnen mögen zwar dank ihrer therapeutischen Vorerfahrungen inzwischen viel widerstandsfähiger geworden sein und die Belastungen durch die Covid-19-Pandemie besser als die Durchschnittsbevölkerung bewältigen können. Das gilt aber natürlich in all den Fällen nicht, in denen eine erhöhte Stressempfindlichkeit bestehen geblieben und nun unter dem extremen Belastungsdruck der Krise noch mit umso größeren Verschlechterungs- und Rückfallgefahren zu rechnen ist. Für sie müssen die psychiatrischen und psychotherapeutischen Angebote der Praxen, Ambulanzen, Kliniken und Psychosozialen Beratungsstellen aufrechterhalten bleiben. Auch Telefon- und Videoberatungen können nachgewiesenermaßen hilfreich sein und durch eine bedarfsangepasste therapeutische Unterstützung stressbedingte Rückschläge verhindern.
Kommen wir also auf die Ausgangsfrage, was die Pandemie mit unserer Seele macht, zurück. Sie setzt sie zweifellos wie ein massiver Stress-Test unter einen außerordentlich hohen Belastungsdruck und mindert dementsprechend weitgehend auch unser psychisches Wohlbefinden. Zu einer Zunahme psychischer Neu- oder Wiedererkrankungen muss es jedoch auch unter diesen dramatischen Umständen nicht zwingend kommen. Aufklärung und informiertes Verständnis können selbstregulative Kräfte aktivieren und auch stressempfindliche Menschen zu ganz ungewöhnlichen Anpassungsleistungen anregen. Außerdem hat sich das psychiatrische und psychotherapeutische Angebot zur Früherkennung von krankmachendem Stress und zum Abfangen stressassoziierter Erkrankungen deutlich verbessert.